Lügen, darüber sind sich im Alltag alle einig, lügen soll man nicht. So die Theologen und sogar die Juristen, die Eltern und die Lehrer, die Politiker und die Verliebten, die Journalisten und ihre Leser. Lügen soll man nicht seit je. Jedenfalls seit den zehn Geboten: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“, um die Formulierung Luthers zu zitieren. Zugleich aber lügen sie alle, lügen wir alle, mancher, wissenschaftlich erwiesen, hunderte Male am Tag, wobei die Lügen von der kriegstreibenden Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen bis zum augenzwinkernden Kompliment gehen können.
Das Besondere an dem Phänomen Lüge liegt nicht darin, dass wir Menschen hier religiöse oder moralische Gebote übertreten. Schon die hebräische Bibel erzählt immer erneut davon, dass wir töten und ehebrechen und stehlen und neiden, Gott darüber in Zorn gerät und mit Strafe oder Barmherzigkeit reagiert. Aber bei den meisten Menschen bleibt dieses Töten und Stehlen, Ehebrechen und Neiden doch Ausnahme oder auf Ausnahmesituationen wie Kriege beschränkt. Anders steht es mit der Lüge: Man soll nicht lügen, aber alle tun es, häufig, immer wieder. Die Soziologie weiß um das normale Schicksal von Geboten, von Gesetzen, an die sich keiner hält: Sie verschwinden aus der sozialen Welt, verlieren ihre Verbindlichkeit. Nicht so das Lügenverbot. Zumindest im privaten Bereich dürfte der offene Vorwurf „Du lügst“ in den meisten Fällen zum dauerhaften Kontaktabbruch führen. Im politischen Bereich gibt es viele aktuelle Beispiele, dass eine offenbar gewordene Lüge das Ende einer Karriere bedeuten kann. Es muss sehr mächtige Gründe dafür geben, dass die Alltagssprache auf den pejorativ gebrauchten Begriff der Lüge nicht verzichten kann, ebenso mächtig wie die, die dafür sorgen, dass die Lüge aus der Alltagspraxis nicht verschwindet. Kurz, die Lüge ist eine interessante Sache, so schwer zu fassen wie schwer zu lassen.